…kann es schon mal zu der einen oder anderen Naturkatastrophe kommen – wie bei mir neulich. Deswegen ließ ich die wahrscheinlich schönsten blauen Augen der Welt entkommen. Aber zum Glück gibt es Schlimmeres im Leben.
„Entschuldigung?“ Die männliche Stimme lässt mich von meinem Time-Magazin hochschrecken. „Äh..ja?“, sage ich und starre in kristallblaue Augen. Die wenden sich nun von mir ab, gucken über seine linke Schulter, in die gleiche Richtung, in die sein linker Zeigefinger zeigt. „Ist das Ihre Waschmaschine?“ Ja, will ich sagen, doch meinen Lippen entweicht nur ein „Uff!“: Wasser, das doch eigentlich meine Buntwäsche säubern sollte, fließt in Strömen aus meiner Maschine heraus, bildet so auf dem Boden des Waschsalons eine immer größer werdende Lache.
„Huch“, sage ich, springe von meinem Sitz am Fenster auf und hüpfe zu dem leckenden Bullauge. Verzweifelt drücke ich dagegen, versuche die Tür wasserdicht zu verschließen. Doch die Flut lässt sich nicht eindämmen. Also zücke ich mein Handy, wähle die Nottelefonnummer, die auf dem Schild an der Wand steht. Anrufbeantworter. Ich hinterlasse eine Nachricht, setze mich dann auf den Tisch direkt gegenüber der nur halb mit Wasser gefüllten Maschine. Ich starre auf die immer größer werdende Überschwemmung und warte darauf, dass mein Handy klingelt. Doch das bleibt still und nach fünf weiteren Minuten voller Flut wähle ich erneut die Notfallnummer – diesmal mit Erfolg.
„Ja, da müssen Sie mal ein bisserl gegen die Tür drücken…“ sagt eine unmotivierte Stimme am anderen Ende der Leitung, nachdem ich die Lage erklärt habe.
„Hab ich schon, funktioniert nicht“, entgegne ich angespannt und füge hinzu: „Können Sie die Maschine nicht anhalten?“
„Anhalten? Nee, das geht nicht. Da müssen wir jetzt schon abwarten…“
„Aber da kommt echt viel Wasser raus! Liegt hier vielleicht irgendwo ein Lappen rum oder können Sie nicht vorbeikommen, um das aufzuwischen?“ Und ich betrachte den Waschsee, der sich langsam unter meinem Rettungstisch ausbreitet.
„Vorbeikommen. Nee, also ich bin gerade wirklich nicht in der Nähe.“ Ein schweres Atmen. Dann: „Also nee, so schlimm ist das doch nicht. Warten Sie einfach ab.“
Verdattert stutze ich erst, dann antworte ich kurz: „Ok. Wenn Sie meinen.“
Nach dem Gespräch drehe ich mich um zu dem jungen Mann, der hinter mir mit dem Rücken an die Waschmaschinenreihe gelehnt steht. Doch er sieht mich nicht an, ist ganz in seine Lektüre vertieft – irgendein englisches Interpretationsbuch über Alice im Wunderland, wie ich von meinem Tisch aus erkennen kann.
„Entschuldigung?“, sage nun ich und der Blick seiner blauen Augen trifft wieder meinen. „Also, ich hab jetzt da angerufen“, sage ich, leicht aus der Fassung gebracht, und erzähle mein Telefongespräch mit dem Service-Menschen. Irgendwo am Ende meines Berichts bringe ich ihn zum Lächeln und niedliche Lachfalten bilden sich um die kristallblauen Augen. Dann lächele auch ich – und er vertieft sich wieder in seine Lektüre.
Während ich daraufhin verzweifelt versuche, mich an den genauen Inhalt von Alice im Wunderland zu erinnern, um die blauen Augen samt Lachfalten in irgendein halbwegs intelligentes Gespräch zu verwickeln, krächzt es auf einmal zu mir herüber, von meinem ehemaligen Sitz am Fenster des Waschsalons aus. „Ja ja“, meint dort eine circa 70-jährige Dame und wirft mir einen verschwörerischen Blick zu: „Dieser Servicemensch! Den hab ich auch schon mal angerufen, als in meine Waschmaschine gar nicht erst Wasser einlaufen wollte. Da bleibt ja alles dreckig! Aber er wollte gar nicht vorbei kommen – also ich glaub, der hat einfach keine Lust zu arbeiten…“ Ich nicke freundlich, schaue sie dabei an und kommentiere hier und da kurz ihre nun genaue Schilderung des Vorfalls vor anscheinend noch nicht allzu langer Zeit.
Auch Mister Wunderland hat jetzt wieder den Kopf gehoben. Seine blauen Augen gucken aber die Dame – und nicht mich – an. Die beiden unterhalten sich angeregt, und auch ich will in das Gespräch mit einsteigen, als meine halbvolle Maschine auf einmal in den Schleudergang schaltet. Da sehe ich nur noch Mundbewegungen, höre kaum etwas außer dem regelmäßigen „Splatsch!“ zu meiner Linken. Von meinem Tisch auf die beiden zuzuhüpfen ist keine Option, denn erklären, warum ich mitten in die Riesen-Pfütze springe, könnte ich nicht.
Also bleibe ich sitzen, auf meinem einsamen Platz, und beobachte die Mundbewegungen der beiden (aber hauptsächlich die meines Lieblings-Waschbären) und warte, bis der Sturm vorübergezogen ist. Doch leider endet mit meinem Schleudergang auch die Waschzeit des einzig anwesenden Vertreters des starken Geschlechts. Und mit einem leisen Seufzen beobachte ich, wie er seinen Rollkoffer hinter sich her durch die Tür zieht. Kurze Zeit später verlässt auch Madame den Waschsalon.
Also widme ich mich wieder meinem Time-Magazin – doch nur vier Seiten lang. Denn dann ist meine Maschine mit dem zweiten Schleudergang fertig, und ich lade meine Buntwäsche in den zum Glück normal funktionierenden Trockner.
In dem Moment hält ein weißer Kleintransporter vor der Tür. Heraus springt ein Mittvierziger in Jeans und Turnschuhen, der kurze Zeit später in dem Raum steht, den meine Waschpfütze inzwischen fast gänzlich erobert hat. „Eieiei“, meint er mit einem breiten Grinsen, zuckt mit den Schultern und tigert in Richtung zweite Tür des Waschraums – hinter der er einen Wischer hervorzaubert. „Es gibt Schlimmeres im Leben“, meint er während er über den Boden wischt. „Oder?“ fügt er hinzu und guckt mich an. Ich grinse nur. Er wischt weiter.
„Nee, aber ehrlich – es gibt doch Schlimmeres im Leben, oder?“ sagt er noch zweimal, bis ich schließlich antworte: „Ja, es gibt wirklich Schlimmeres im Leben.“ Er nickt zufrieden, wischt kurz weiter und hebt dann wieder den Blick: „Aber ganz ehrlich – es wäre doch schön, wenn das das Schlimmste im Leben wäre, oder? Ich meine, wenn das das Schlimmste im Leben wäre, dann ginge es uns doch echt gut, oder?“ „Ja“, antworte ich, „dann ginge es uns wirklich gut.“
L.