…hab ich gestern erlebt – und so den heimlichen Verdacht, dass das kleine karnevalslose Hamburg einerseits meinte, jetzt auch mal ein bisserl einen auf Jecken machen zu müssen, andererseits da noch ein bisserl üben muss…
„Heute ist doch Schlager-Move!“, ruft Christina, eine meiner circa zehn Ex-Hamburg-Mitwohnis (lebe ja in einem Studiwohnheim, da zieht so etwa jeden Tag jemand um), durchs Telefon. „Da müssen wir hin!“ Von ihrem Enthusiasmus angesteckt, beuge ich mich mit Freude ihrem Willen – sollte da der kleine, leicht reaktionslose Hamburg vielleicht doch mal zum (fast) echten Jecken werden? Karneval (beziehungsweise Fasching – sorry, liebe Mainzer 🙂 ) gibt es ja hier, im hohen Norden, nicht.
Schon in der U-Bahn deutet alles daraufhin, dass sich meine These bestätigt: Um uns herum tummeln sich nur Menschen in Plateau-Schuhen, mit Blumen an Kleidung und Haar und bunten Perücken auf dem Kopf. Selbst die Polizei scheint sich dem allgemeinen Wahnsinn angeschlossen zu haben: Die Beamtin, die aufpasst, dass auch keiner der wild gewordenen Nordlichter zwischen Bahn und Bahnsteig verschollen geht, trägt einen modischen Vokuhila-Haarschnitt à la Wolle Petry.
Und doch ist das Bild der Feier-Wütigen nicht ganz stimmig: Die einen singen Jubel-Lieder auf den Hamburger Fußball-Klub Sankt Pauli, die anderen grölen noch immer die Fußball-EM-Melodie, die ich spontan im Kopf mit dem Satz „Wir wollen Euch siegen sehen!“ ergänze.
Dennoch freudig erregt sind meine kleine (aktuelle) Mitwohni Julia angesichts der Partystimmung – auch wir haben uns in 70er-Schale geschmissen, ich mit buntem Wickelrock, orangenem Leinen-Shirt und Fliegenbrille, sie mit lila Stirnband, Lampenschirm-Rock und weißem Leinen-Shirt. Nach kurzem Warten stößt Christina (Photo links) zu uns und gemeinsam hüpfen wir in die U-Bahn in Richtung Sankt Pauli.
Dort angekommen ist die Party voll im Gange, wir stürzen uns in denallgemeinen Trubel, folgen einem der Schlager spielenden Partywagen auf den Reifen (Füße hat sowas ja nicht…). Und so rocken wir durch die Gegend, ganz Hamburg scheint mitzumachen. (Auf dem Photo rechts lässt sich Julia von der allgemeinen Schlager-Stimmung mitreißen)
Doch bei näherem Hinsehen differenziert sich das Bild: Viele von denen, die tatsächlich mittanzen, sind solche, die mitteilen zu wollen scheinen: „Ich bin wirklich Wolle-Petry-Fan!“ und – wie Julia das ausdrückt – „Endlich schaut mich mal keiner doof an, wenn ich anziehe, was mir gefällt!“ Waschechte Schlager-Fans treiben sich da also auf Hamburgs Straßen rum – ein zu verallgemeinerndes Phänomen? Ist etwa heimlich ganz Hamburg Schlager-Fan?
Nicht ganz, stellen wir fest. Denn neben eingefleischten Vokuhila-Fans macht da noch eine andere Kategorie Hamburgs Straßen unsicher: Diejenigen, die sich wohl extra für den Schlager-Move bei einem der einschlägigen Billig-Klamotten-Läden am Kiez lustige 70er-Klamotten gekauft haben, mit ihrem Outfit um die Wette beeindrucken. Und genau dadurch unterscheiden sie sich auch von den wirklichen Schlagerfans, die ja mit Tanzen, Rumhüpfen und Mitsingen beschäftigt sind: Tanzen, Rumhüpfen und Mitsingen ist bei so viel Maskerade oft nicht drin – da könnte ja die Perücke verrutschen, und man könnte, oh Schreck, ja nicht mehr cool aussehen. Und außerdem sind die Coolios eigentlich nicht wirklich Fan dieser Veranstaltung und Musik, wirklich Spaß ist also erst ab einem gewissen Alkoholpegel angesagt…
Wir indes hüpfen weiter durch die Gegend, feiern mit den echten Vokuhilas und versuchen gleichzeitig, einige der Coolios zum Spaß Haben zu animieren (was so mittel gelingt…).
Gegen halb sechs, nach zwei Stunden wilden Hüpfens, einem halben Sonnenstich und mindestens drei Liter Wasser weniger (da ausgeschwitzt…lecker) kommen wir am Kiez an: Dort hat die arbeitende Bevölkerung der Liebes-Meile Hamburgs bei den vielen Menschen ihre Geschäfts-Chance gewittert und sich längst unters tanzende Volk gemischt – oder zeigt wilde Strip-Shows auf einem der umliegenden Balkons.
So richtig Reaktion ruft das bei uns jedoch nicht hervor: Dafür sind wir einfach zu ermüdet. Und auch die Menge um uns herum wiegt leicht erschöpft im Takt, einige der Mit-Wankenden sind kaum mehr als Alkohollleichen (oder liegen als solche am Straßenrand herum, siehe links) und das mit dem Mit-Singen klappt auch nicht mehr so reibungslos (nicht, dass man vorher den Ton getroffen hätte – nur waren wir alle lauter mit unserem Katzengejammere).
Für uns drei kurzzeitige Schlager-Freaks ist das der richtige Zeitpunkt, das Kürvchen zu kratzen. Wer sich von den anderen noch gut auf den Beinen halten kann, hüpft weiter mit den Wagen um die nächste Ecke. Wir jedoch gucken ihnen nach und freuen uns schon auf ein kühles Nass in der nächsten Kneipe.
L.