…meint Nicole und nimmt noch einen Bissen Lachs. „Dann zieht er die einzelnen Stücke nacheinander heraus.“ Entgeistert starre ich sie an, die Gabel mit Auberginen-Auflauf schafft es nur noch den halben Weg bis zu meinem Mund, und ich denke mir nur: „Gut, dass ich Hugenottin bin (beziehungsweise von ihnen abstamme) – da kann mich die kleine Weisheitszahn-OP heute Abend nicht schocken.“ Das mulmige Gefühl in meiner Magengrube ignoriere ich.
„Indianer kennen keine Schmerzen“, steht in der Mail von Christian heute Nachmittag. So richtig beruhigen kann mich das nicht – dafür hat Nicole beim Mittagessen gesorgt: „Also, bei mir hat das total lange gedauert, meine Weisheitszähne zu ziehen“, hat sie gesagt und – auf meinen geschockten Blick hin – schnell hinzugefügt: „Aber das ist wirklich nicht die Norm!“ Ein Grinsen.
Nicole ist eine Kollegin von mir, aus der Wissenschafts-Redaktion. Vorher hat sie beim Gesundheitsportal gearbeitet, sollte sich also eigentlich (!) mit Gesundheitsthemen auskennen.
Operation Weisheitszahn ist bei ihr gründlich schief gegangen: „Der hat meinen Nerv durchtrennt“, beschreibt sie, „und jetzt fühle ich hier nix mehr.“ Sie zeigt auf die rechte Hälfte ihres Kinns. Ein bisschen doof sei das schon, meint sie – vor allem, wenn man da mal Essensreste hängen habe. Das merke man dann gerne mal einen halben Tag nicht. Auch würde man sich viel öfter auf die Lippe beißen. „Aber, so was passiert echt selten“, fügt sie wieder hinzu und klopft mir beruhigend auf die Schulter.
Ja, so was passiert selten, denke ich mir. Nur leider passiert so was bei ungefähr allen Menschen, die ich kenne. Spontan fällt mir tatsächlich keiner ein, der seine Weisheitszähle rausbekommen hat, ohne mit ner Wange von hier bis nach Bagdad herumzulaufen oder zwei Wochen lang Dauerschmerzen zu haben.
Indianer haben keine Schmerzen, erinnere ich mich wieder. Aber: Wie sieht das mit Hugenotten aus – haben die Schmerzen und Angst?
Ich hab welche, und zwar gehörige! Todesmutig wage ich mich trotzdem nach der Arbeit über die Straße in Richtung Zahnarztpraxis, melde mich brav am Empfang an, lese mit zitternden Händen Zeitung, bis mein Stündchen schlägt.
Zehn Minuten später schlägt das auch, mit wackeligen Knien trabe ich in das Behandlungszimmer. Strahlend wie immer kommt mein junger, blauäugiger (nicht im übertragenen Sinne…hoffe ich) Zahnarzt durch die Tür geschwebt. Das Röntgenbild hab ich dabei, noch aus Frankreich.
Und während er noch darein vertieft ist, frage ich vorsichtig: „Zerschlagen Sie mir jetzt den Zahn?“ Zwei Sekunden Pause, dann lautes Lachen. „Zerschlagen? Wir sind doch nicht im Mittelalter!“ Leicht verunsichert erzähle ich ihm Nicoles Zahndrama und er entgegnet: „Haha, das sind ja Methoden wie vor 25 Jahren!“ So was hätte man nur früher einmal gemacht. Da habe es nämlich eine regelrechte „Weisheitszahn-Hexenjagd“ gegeben, jeder Ansatz von Weisheitszahn musste sofort entfernt werden. Harte Methoden habe man da angewandt, um Zähne selbst aus dem Kiefer herauszuschlagen. „Aber heute ist das ja nicht mehr so“, beruhigt er mich. Da würde der Weisheitszahn einmal schnell rausgedreht und fertig.
Sorge Nummer eins ist also grundlos – ich komme zu Sorge Nummer zwei: „Und kann der Nerv dabei beschädigt werden?“ frage ich. Leicht verdattert guckt mich mein schöner Zahnarzt an und meint: „Also, das geht sowieso nur am Unterkiefer.“ Oben verliefen die Nerven anders, Rausrupfen von Weisheitszähnen könne insofern nichts zerstören. Mein Weisheitszahn ist zum Glück im Oberkiefer.
Weitere Sorgen fallen mir spontan nicht ein, und eh ich mich verseh, piekst mein Arzt mir mindestens drei Liter Betäubungsmittel ins Zahnfleisch und meint: „So, jetzt warten wir ein paar Minuten.“ Dann verschwindet er und überlässt mich Sorge Nummer drei: Werde ich auch diesmal wieder in Ohnmacht fallen?
Auch Sorge Nummer drei stellt sich als haltlos heraus. Zehn Minuten später bin ich noch immer nicht in Ohnmacht gefallen, Monsieur hält triumphierend meinen Weisheitszahn in der Zange und seine Zahnarzthelferin ruft: „Oh, ist der süß!“ Und tatsächlich, mein Zahn ist ein Mini-Weisheitszahn (siehe Photo) – und ich denke mir, Hugenotten-Blut heißt anscheinend noch lange nicht Hugenotten-Mut…
L.