…ist alles erlaubt. Das dachte sich wohl gestern die Pariser Polizei, als sie mal wieder ein „colis suspect“, ein verdächtiges Paket sprengen wollte. Wie es dazu kam und doch nicht dazu kam.
In Gedanken versunken schlurfe ich in Richtung Ausgang des Supermarkts, frage mich angestrengt, was zur Hölle ich wohl in die Einleitung meiner Masterarbeit schreiben könnte. Der Supermarktangestellte, der normalerweise die Einkaufswagen bewacht, ist verschwunden. Als ich rausgucke, sehe ich ihn mit zwei Sicherheitsbeamten der RATP (dem Pariser Nahverkehr) vor der Tür stehen. Ich trete aus dem Ausgang und verheddere mich in rot-weißem Trennungsband.
Wild fuchtelnd und schief grinsend hüpft Mister Sicherheitsmann daraufhin auf mich zu und dirigiert mich auf die andere Straßenseite. Als ich ihn verwirrt angucke, spuckt er aus: „Die jagen gleich einen verlassenen Rucksack im Bus hoch! Sie müssen einen großen Bogen um den Bus machen.“ Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie der Bus à la „Speed“ in einer großen Explosion in die Luft geht, schaue mich instinktiv nach Keanu Reeves um, der die Situation retten wird.
Keanu lässt jedoch auf sich warten, ich hüpfe indessen auf die andere Straßenseite und setze mich auf das Geländer des Gehwegs. „Da können Sie nicht bleiben…“ Ein weiterer Sicherheitsbeamter der RATP kommt auf mich zugeeilt und treibt mich außer Sprengweite – sprich 50 Meter weiter. Dort lasse ich mich auf einem anderen Geländer nieder, genieße die Sonne, schlürfe genüsslich eine Cola und schaue mir den Zirkus an. Die circa 20 Polizisten und RATP-Sicherheitsmänner haben inzwischen die vielbefahrene Straße nach beiden Seiten hin abgesperrt, halten Auto- und Fußgängerverkehr vom Tatort fern.
Einer der Ferngehaltenen ist ein Mittvierziger auf einem Fahrrad. Leicht verärgert kommt er zurückgefahren und hält neben mir an: „Oh Mann, ich hab doch nur 30 Minuten Mittagspause – son Mist.“ Dann erzählt er, dass er in der Nähe von Montparnasse wohnt, einem der sechs Bahnhöfe in Paris. Dort würde alle Tage irgendein vergessener Koffer hochgesprengt. Auch ich erinnere mich da an die vielen Male, die ich in der Métro saß und auf irgendwelche Sprenger wartete, die uns am Weiterfahren hinderten.
„Tja, das machen die halt gerne“, meint mein Mitwartender mit einem Kopfschütteln. „Und dabei wissen die doch gar nicht, wie sowas geht.“ fährt er fort und zeigt auf einen der RATP-Beamten, der verwirrt in der Gegend rumsteht. „Wissen Sie, ich war beim Militär, als Freiwilliger – leider.“ „Achso.“ meine ich. „Wann denn? Und da haben sie gelernt, mit Sprengstoff umzugehen?“ „Ja klar.“ entgegnet er. „Das war in den 80ern, ich werds nie vergessen…“ Sein Blick verliert sich in dem Blumenkübel hinter mir. „Und – wie ist das so inner Armee, hat es Ihnen nicht gefallen?“ „Nein.“ antwortet mein Gegenüber. „Wissen Sie, 1983 war ich mit meinem Fallschirmjäger-Bataillon im Libanon. Drakkar 1983, ich werds nie vergessen!“
Und er erzählt mir von dem Anschlag auf den US-Stützpunkt in Beirut. Auch französische Soldaten seien dort stationiert gewesen – und er war einer davon. Seine Kompanie (die dritte Kompanie des 1. Fallschirmjägerregiments (1er Régiment de Chasseurs Parachutistes)) sei fast komplett ausgelöscht worden. 56 seiner Kollegen seien gestorben, als ihr Stützpunkt gesprengt worden sei. Er hätte seit 15 Minuten Feierabend gehabt, wäre so der Attacke entgangen. Außer ihm hätten noch vier andere Kompagnons überlebt. „Fünf Normannen waren wir in unserer Kompanie und ich war der Einzige, der überlebt hat.“
Als er dann nach Frankreich zurückgekommen sei, hätte ihm François Mitterrand die Ehrenmedaille überreicht. Seine Kumpels würden davon jedoch auch nicht mehr lebendig. „Und wir waren alle Freiwillige, keine Berufssoldaten!“ stösst er hervor.
Dann guckt er in Richtung Bus. Ich folge seinem Blick. In dem Moment ruft der RATP-Beamte an unserem Ende der Absperrung: „C’est bon. Il y a le propriétaire qui arrive…“ Und wir sehen den Besitzer des Rucksacks mit wild fuchtelnden Armen auf den Bus zustürzen. Wir brechen in Gelächter aus – auch der RATP-Beamte kann ein Schmunzeln nicht unterdrücken.
Zwei Minuten später wird die Absperrung aufgehoben und mein Kompagnon und ich können unseres Weges ziehen. Auf der anderen Seite der Straße steht der Rucksackbesitzer mit zwei Polizeibeamten. Richtig glücklich sieht er nicht aus. „Il risque un procès-verbal.“ meint mein Fahrradfahrer. Aber, entgegne ich, ein Strafzettel, weil man seinen Rucksack im Bus vergisst, sei doch nicht fair! „Depuis le plan Vigipirates, il faut faire attention!“ (Seit dem „Vigipirates“-Gesetz muss man eben aufpassen!) erklärt er.
Der Plan Vigipirates wurde 1978 ins Leben gerufen und ist ein Anti-Terrorgesetz. Zum ersten Mal akitiviert wurde das Gesetz 1991. Demnach gibt es vier verschiedene Stufen der Terrorbedrohung (gelb, orange, rot und scharlachrot). Immer wenn irgendwo auf der Welt ein Attentat passiert, wird die Alarmstufe erhöht und Polizei und Militär gehen mit noch offeneren Augen durch die Straßen. Laut Vigipirates kann das Militär nämlich der Polizei unter die Arme greifen im Falle eines drohenden Terror-Angriffs. Und seitdem ich in Paris bin, bestand diese Terror-Bedrohung mehr oder weniger die ganze Zeit – seit dem 7. Juli 2005 steht das Terrorniveau auf Rot. So wird der Tour Montparnasse vom Militär bewacht, ebenso der Eiffel-Turm. Auch Militärpartrouillen an anderen Orten der Stadt stehen auf der Tagesordnung. Und seit dem Plan Vigipirates darf man Koffer nicht mehr ohne Namensschild irgendwo rumstehen lassen – sonst werden sie eben gesprengt.
So droht dem armen, vergesslichen Olm auf der anderen Straßenseite nun eine Strafe dafür, dass er seinen Rucksack vergessen hat. „Und wenn er Pech hat, reicht die RATP noch ne Klage ein…“, fügt mein Fahrradfahrer hinzu.
L.