…und die Traurigkeit hält Einzug im kleinen Frankreich. Fast schon kommt es mir so vor, als wären die Szenen mit den Tausenden von Sarkozy-Feiernden gestern am Place de la Concorde gestellt, als hätte irgendein genialer Regisseur sich da einen skurrilen Witz erlaubt, als hätte die Wahl gar nicht stattgefunden, als hätte gar nicht die Mehrheit der Franzosen für Sarkozy gestimmt. So frappierend ist der Kontrast zwischen dem, was ich im Fernsehen sehe und dem, was in meinem Umfeld passiert…
Mein Mitbewohner kommt gestern Abend völlig betrunken nach Hause, kann das Wahlergebnis kaum glauben, vergießt imaginär ein paar Tränchen: „Die Mehrheit der Franzosen haben Sarkozy gewählt.“ sagt er mit gesenktem Kopf. „Die Mehrheit der Franzosen sind Faschisten.“ Und dabei hat der kleine Äquatorianer doch gerade dieses Jahr erst die französische Staatsbürgerschaft erhalten…ob er wohl lange bleiben wird im kleinen Frankreich?
Marion, die um 20 Uhr neben mir steht, klein wie sie ist nicht über die Menge am Hauptsitz der Parti Socialiste drübergucken kann, die Großleinwand nicht sieht und mich fragend, hoffend anschaut – wer hat gewonnen? Erst das Raunen, dann die Buh-Rufe und Unmengen von Stinkefingern um uns herum sagen mehr als tausend Worte. Drei kleine Französinnen im „Les Jeunes pour Ségolène“ – T-shirt links neben uns fangen kollektiv an zu weinen, rechts der Mittzwanziger schreit nur noch buuuuh, wird dabei lauter und lauter.
Als wir daraufhin zur Maison de l’Amérique Latine rüberlaufen, wo Ségolène gleich auftauchen soll, herrscht fast Stille auf der Straße. Verglichen mit der Fußball-Weltmeisterschaft-Endspiel-Stimmung, die herrschte, als wir gegen halb acht in der Rue de Solférino ankamen, könnte man jetzt meinen, es sei langes, autofreies Wochenende – jedenfalls dem Geräuschpegel nach. An der Maison de l’Amérique Latine steht die Menge, die Ségolène erwartet. Gesprochen wird kaum, geschweige denn gelacht. Polizisten regeln den Verkehr, sie sind fast die einzigen, die reden.
Ségolène lässt auf sich warten und schließlich entscheiden Marion und ich uns, weiter zu Sciences Po zu wandern. Dort veranstaltet France Culture wie vor zwei Wochen eine Wahlsendung – mit Profs von Sciences Po und dem dynamischen Radiomoderatoren Ali Baddou. Doch selbst er kann die Stimmungskurve nicht mehr hochreißen. Nur auf wenigen Gesichtern entdecke ich ein Lächeln, zwei oder drei Jungs im Hemdchen schütteln sich freudig die Hand. Als Sarkozy im Fernsehen auf die Bühne tritt, zur Vereinigung von Rechter und Linker aufruft und seine europäische Rede hält, geht ein Raunen durch die Menge, die Gesichter verziehen sich.
Der Abend endet für Marion und mich in einer Bar um die Ecke, wo wir unseren Kummer in grünem Tee ertrinken und mit müden Augen die Großleinwand am Ende des Saals beobachten. Auch hier sind nur Ségo-Fans anwesend, lassen immer wieder wütende Stöhner von sich, kommentieren das Fernsehgeschehen mit „J’y crois toujours pas!“ (Ich glaubs immer noch nicht) oder „Ce n’est pas possible!“ (Das ist doch nicht möglich!). Die Surrealität der Situation ist auf dem Höhepunkt, als im Fernsehen der Sänger Johnny Halliday gezeigt und zum Sieg Sarkozys interviewt wird. Mehrwert des Gesprächs ist wie erwarten gleich null, so in etwa, als ob man Paris Hilton zum Thema Raketenabwehrschild der USA befragt…
Dann erscheinen Bilder vom Place de la Bastille. Krawalle haben da angefangen kurz nach Bekanntgabe des Ergebnisses. Zu sehen sind verstreute Mengen von Jugendlichen und CRS, das Spezialkommando der Polizei. Über dem Platz liegt ein Schleier von Tränengas. Der Kommentator erzählt, die Demonstranten hätten Steine aus dem Kopfsteinpflaster ausgehebelt und würden sie auf die Polizisten werfen. Krawalle gibt es noch in anderen großen Städten wie Lyon, Marseille, Nantes. Teilweise sind die friedlich – zum Beispiel mit Plakaten wie „Un président de merde pour un pays de cons“. Im Laufe der Nacht werden 592 in ganz Frankreich festgenommen. 730 Autos sollen brennen.
Nach der Niederlage Ségolènes verlieren die „Elefanten“ (sozusagen die alten Hasen) der PS keine Zeit, von der Situation zu profitieren. Dominique Strauß-Kahn, einer von Ségos Widersachern bei der Vorauswahl des Präsidentschaftskandidaten der PS, sagt: „Die Partei muss erneuert werden.“ Und natürlich stehe er dafür zur Verfügung.
Marion und ich trinken schweigend unseren Tee. Das mit der Kummer-Ertränken hilft nicht – zu sehr ist diese Wahl personalisiert worden. Und zu sehr identifiziert man sich schließlich mit einem der Kandidaten – eben so, als ob unsere Fußballmannschaft es ins Endspiel geschafft hat und dann doch ganz knapp beim Elfmeterschießen verliert.
Die Katerstimmung ist auch am jetzt, am Montag, noch nicht verflogen. An der Sorbonne sehe ich nur betroffene Gesichter. Diejenigen, die für Sarkozy gestimmt haben, treffe ich seltsamerweise heute nicht. Cécile guckt mich ungläubig an und meint: „Ich kann nicht glauben, dass die Franzosen für so einen, so einen…“ Das Wort fehlt ihr, aber ihr Gesichtsausdruck sagt alles. Und ich warte immer noch darauf, dass ich wieder aufwache, aus diesem bösen Traum…
L.