Mein erstes Mal

Irgendwann ist ja immer das erste Mal. Bei mir war es vergangene Woche – in China.

„Morgen um halb sieben ist Frühstück. Um halb sieben! Aber wirklich um halb sieben – allerspätestens um 6h40, aber auf keinen Fall später!“, sagt der Chinese an der Rezeption meines Hostels in dem sogenannten Hutong, einem traditionellen Haus im Zentrum Pekings, mit eindringlichem Blick.

Ich nicke, leicht verschreckt. Murmele so etwas wie „keine Sorge, ich bin Deutsche, ich bin pünktlich…“

6h30, am nächsten Morgen. Ich laufe über die Türschwelle des Frühstückssaals. Es herrscht Stille. Das Mädel an der Rezeption – die mir Frühstück machen sollte – schläft noch. Ihr Kollege hat wohl vergessen, ihr zu erzählen, dass ich heute den Bus um sieben zur chinesischen Mauer nehmen soll.

20 Minuten später und dank der manchmal kaum erklärbaren chinesischen Effizienz sprinten wir gemeinsam in Richtung des Busses. Dort wartet schon eine leicht hibbelige Fremdenführerin auf uns. Ich hüpfe hinein, setze mich, freue mich auf die Tour. Es ist mein erstes Mal bei einer dieser Gruppen-Touristen-Touren.

Um mich herum etwa ein Dutzend Leute – teilweise Ausländer, teilweise Chinesen. Viele Leute sind das nicht für eine Massentour, denke ich. Bis der Bus zehn Minuten später rechts an einer Pekinger Hauptstraße anhält. Eine Stunde lang.

Hier holen sich einige erstmal Frühstück holen, andere gehen auf Toilette. Die Fremdenführering verschwindet mit einer Gruppe von ihnen. Der Busfahrer zieht einen Klappstuhl hervor, stellt ihn vor dem Bus auf und raucht genüßlich seine elektronische Zigarette.

Langsam kommen immer mehr Leute und steigen in den Bus – die Hälfte Chinesen, die andere Hälfte Ausländer. „Nicht einsteigen – wir haben doch noch ewig Zeit“, schreit der Busfahrer – von seinem Stuhl – ab und zu einem der chinesischen Kunden zu. Ich versuche – erfolgslos -, verpassten Schlaf auf meinem ungemütlichen Bussitz nachzuholen.

Von dort aus beobachte ich, wie zwei dünne Frauen mit zwei dünnen jungen Mädchen zwei volle Tüten mit Frühstück auf den Sitzen eines geparkten Besenautos ablegen. Über die nächste halbe Stunde füttern sie sich und die Mädchen mit schier Unmengen an frittiertem Gebäck und Hafersuppe. Wie all das Essen in die wirklich sehr dünnen Menschen hineinpasst, ist mir physisch nicht erklärbar.

Eine gefühlte Ewigkeit später ist der Bus endlich voll. Sogar die Fremdenführerin ist zurück. Während wir uns auf die anderthalb-stündige Fahrt zur chinesischen Mauer machen, teilt sie uns in Gruppen auf. Ich, und nur ich, bin Gruppe Nummer vier.

Dann erklärt sie auf Englisch und Chinesisch, was heute passieren wird. Wir werden ankommen an der chinesischen Mauer, müssen dann eine 50-Meter-lange Straße entlang gehen. Dort gibt es zwei Klos. Das erste ist oft sehr voll, deswegen werden wir zum zweiten laufen und können dann da aufs Klo, wenn wir wollen. Jeden Satz sagt sie dreimal. Dreimal auf Englisch und dreimal auf Chinesisch.

„Was hat sie noch gesagt, wie das heute abläuft?“, fragt danach eine Frau vor mir auf Englisch ihren Sitznachbarn.

Eine Stunde später fährt unser Bus auf einen Parkplatz, der schon mit anderen Bussen vollsteht. Als wir aussteigen, ist es schwierig, die Fremdenführerin in der Menge zu hören. Wir sammeln uns hinter ihr, sie hält eine grüne Flagge in die Höhe und rennt los. Durch ein Meer von Flaggen und Menschen. Im Stechschritt laufe ich neben ihr her. Vorbei an dem ersten, dann dem zweiten Klo. Wir halten an keinem von ihnen.

Irgendwann kommen wir beim Ticketschalter an. Dort gibt es Eintrittstickets für die Mauer und für die Seilbahnen. Wer welche Seilbahn zu welcher Stelle der chinesischen Mauer nehmen will, hatte die Reiseführerin schon aufgeschrieben. Dennoch schreit sie nun in die Menge hinein „Wer will zum Turm sechs und wer will zum Turm 14?“. Dann kauft sie hektisch die Tickets, gibt mir meine (hoch zum Turm 14 und runter vom Turm sechs) und schickt mich los. Sie zeigt auf den Eingang der Seilbahn und sagt „dorthin“. Von wegen Tour mit Fremdenführer, denke ich nur, und trabe leicht verwirrt und alleine los.

Eine halbe Stunde später laufe ich glücklich die chinesische Mauer entlang. In einem Meer von Touristen. Die chinesischen Besucher verwenden dabei an Engpässen die den Chinesen eigene und höchst effiziente Schiebetechnik. Man wird von der Masse energisch aber emotionslos nach vorne geschoben. Irgendwie muss es ja weitergehen.

Da müssen alle hoch…

Die Sonne macht mir zu schaffen, und irgendwie ist mir schlecht – von dem Höhenunterschied? Als ich am letzten ausgebauten Stück (Turm 18 oder 19?) oben ankomme, setze ich mich erschöpft auf den Boden. Neben mir knien zwei 14-jährige Mädchen und grinsen mich an. Ich lächele zurück.

„Woher kommst Du?“ fragen sie und kommen näher. Zehn Minuten später und nachdem ich ihnen in meinem holprigen Chinesisch erklärt habe, dass ich für die Hochzeit meiner Chinesisch-Lehrerin in China bin, fragen sie, ob sie ein Photo mit mir machen dürfen.

Nicht, dass mich das überrascht. Während meines einwöchigen Aufenthalts ist es für mich zur Normalität geworden, dass Chinesen vier oder fünf Meter von mir entfernt stehen bleiben und mich mit offenem Mund anstarren. Eltern tippen ihre Kinder an, zeigen mit dem Finger auf mich und sagen „Guck mal, eine Ausländerin, und sie ist so groß!“ Dann starren Kind und Eltern mich gemeinsam an. Und Menschen auf dem Fahrrad oder Motorrad drehen sich starrend zu mir um – während sie weiterfahren. „Achtung!“ schreie ich ihnen inzwischen immer hinterher. Das ist doch gefährlich, beim Fahren nach hinten zu gucken!

Hier auf der chinesischen Mauer sitze ich also, ein Mädchen links, ein anderes rechts von mir, und grinse in die Kamera. „Ich bin so aufgeregt“, sagt die eine zu mir. „Du bist so toll! Deutsche sind so toll – Euer Land ist so entwickelt!“ Ich nicke und lächele. Bedanke mich – auch, wenn ich mir nicht sicher bin wofür.

Zurück nach unten will ich mit der Seilbahn fahren. Aber entscheide mich dann doch für die Rutsche – die auch von der Seilbahnfirma betrieben wird. Auf Schlitten düst man 20 Minuten lang eine Rodelbahn hinunter. Oben steht ein Mann mit einem Megafon. Als ich an die Reihe komme, schreit er mir – durch sein Megafon, obwohl wir nur drei Meter voneinander entfernt stehen – entgegen „HIER IST DIE BREMSE! SO FÄHRT MAN NACH VORNE!“ Ich nicke hastig, steige auf den Schlitten und fahre los. Alle zehn Meter stehen Männer an der Rutsche und lachen mich aus – entweder, weil ich zu schnell oder aber weil zu langsam bin.

Zu schnell oder zu langsam den Berg hinunter.

Irgendwann komme ich trotzdem unten an. Glücklich – nach meinem ersten Mal.

L.