…der Straßenkünstler habe ich neulich erfahren, als ich unerwarteterweise in die Londoner Welt des Volkstheaters eintauchte. Zum richtigen Mix gehören – fast immer – drei wichtige Zutaten.
Die Menschenmenge jubelt. Durch den Innenhof von Covent Garden im Zentrum Londons tappst etwas unbeholfen ein circa 1,70m großer Mann mit schwarzem Charlie-Chaplin-Schnurrbart und -Hut. Fast stolpert er über seine eigenen Füße, fängt sich aber gerade noch einmal und guckt dann storchenhaft und hocherstaunt in die Menge. Ich schmunzele.
Doch dann werde ich von einem ganz anderen Spektakel abgelenkt. Eine Hand links neben mir bahnt sich einen Weg in die rechte Seitentasche des Rucksacks vor mir. Erstaunt drehe ich mich um und gucke in ein verschmitzt lächelndes Gesicht mit schwarzer Rundbrille. „Psst“ gibt mit der vermeintliche Dieb zu verstehen, als sein rechter Zeigefinger seine Lippen kreuzt. Auf dem Kopf mit dunklen Haaren sitzt eine schwarze Baskenmütze.
Das vermeintliche Opfer bemerkt noch immer nichts von der Attacke, und ich beschließe, heldenhaft einzuschreiten. „Äh…“, sage ich und starre den Dieb fassungslos an.
Der zuckt mit den Schultern und kichert. Als der Rucksackträger sich nun doch umdreht, lachen beide laut los. „Ich bin der schlechteste Dieb der Welt“, sagt der mit der nicht ganz flinken Hand und die beiden fallen sich in die Arme.
Jetzt lache auch ich.
Dann hat Charlie wieder meine volle Aufmerksamkeit. Er heckt gerade etwas aus, mit zwei Kindern aus dem Publikum als Assistenten.
„Wann bist Du dran?“ höre ich den Fast-Beklauten den schlechten Dieb fragen. Der antwortet: „Um sechs Uhr etwa – könnte auch sieben werden..“
„Oh“, sage ich. Mein Interesse ist geweckt. „Seid Ihr etwa auch Straßenkünstler?“
Der Mann mit Baskenmütze, alias Antoine, nickt. Mr. Rucksack, alias Bevan, ist nur Zuschauer. Aber er hat sich mit einigen Straßenkünstlern, wie zum Beispiel Antoine, angefreundet. Die schreiben alle morgens ihren Namen auf einen Zettel. Dann wird ausgelost, wer wann an welchem Ort (davon gibt es mehrere bei Covent Garden) seine Show aufführen darf. Natürlich muss man dafür vorher registriert sein, bei der Gesellschaft, die den Ort verwaltet. Wir schauen uns zusammen das Ende der Chaplin-Show an, dann düst Antoine davon – er muss noch seine Show vorbereiten.
Bevan und ich setzen uns auf eine Bank in dem Innenhof und warten auf den nächsten Gig. „Zwar hat jeder eine andere Show, aber die Formel ist immer die gleiche“, erklärt er mir. „Kinder zum Beispiel funktionieren super, selbst wenn man keine speziellen Kunststücke kann. Man lässt sie einfach alles machen und dann denken alle „Oh, wie süß!“, jubeln und klatschen…“
Charlie ist inzwischen von dannen gezogen, und der nächste Zaubermeister baut gerade seinen Wanderstand auf. Er macht einen auf Franzosen. „Macht“, denn in Wirklichkeit ist er Engländer, wie Bevan mir verrät. Aber es sei eben schick, für seine Show eine andere Persönlichkeit einzunehmen. Antoines Alias zum Beispiel hieße François und sei Franzose. „Hä?“, meine ich und aus meinem Kopf steigt langsam ein Fragezeichen gen Himmel. Ob Antoine wohl verstanden hat, wie das mit der anderen – also von einem selbst sich unterscheidenen – Persönlichkeit funktioniert? Bevan ist sich da auch nicht so sicher.
Der Mann vor uns im blau-weißen Ringelshirt macht so viel Krach wie nur möglich. „Er versucht, mehr Menschen anzulocken“, sagt Bevan und fügt hinzu, dass viele dafür laut Musik spielen und oder die Leute, die schon da sind, zum jubeln und klatschen bringen.
Der vermeintliche Franzose ist jetzt voll in Fahrt und babbelt fröhlich ins Mikrofon. Allerdings klappt das mit dem Französisch-Sein so mittel – immer wieder fällt zurück in einen rein englischen Akzent… Dann steht er auf einmal vor uns. Halbnackt.
„Uff – wie ist denn das jetzt passiert?“, sage ich leicht schockiert.
„Ja“, meint Bevan. „Das ist eins der drei Zauberelemente, damit Shows funktionieren: Nacktheit.“
Na, ob das wohl immer funktioniert, frage ich mich mit Blick auf den Nicht-Supermann, der da gerade ohne T-Shirt in dem Innenhof steht…
„Es gibt einen, der hat diese Formel verperfektioniert“, erzählt mir mein Nachbar. „Er macht seine Show gerade dadrüben, auf der Straße.“ Wir steuern auf den großen Platz im Nordosten der überdachten Stände von Covent Garden zu, auf dem Hunderte von Menschen wild kreischen und jubeln.
Ein dunkelbraunhaariger, drahtiger Mann – geschätzte 40, wobei er eigentlich schon 50 ist, wie Bevan sagt – nimmt gerade einen Diabolo in die Hand. Neben ihm auf dem Boden liegen Jonglierbälle, Messer und eine Kettensäge.
„Ich werfe jetzt den Diabolo in die Luft, und jedes Mal, wenn ich ihn nicht auffange, ziehe ich ein Kleidungsstück aus…“, sagt er, und die Menge kreischt begeistert. In den nächsten fünf Minuten fliegen nacheinander – unter lautem Jubeln – Hemd, T-Shirt, Hose und Boxershorts auf den Boden. Dadrunter trägt er einen rosa Schlüpper.
„Und wenn er den Diabolo jetzt noch mal fallen lässt?“ frage ich.
„Dann zieht er die Socken aus.“ meint Bevan grinsend. Er kennt die Show schon auswendig – schließlich ist es anscheinend seit Jahren Wort für Wort die gleiche. Damit verdient der Künstler um die 1000 Pfund pro Woche, meint Bevan. Gar nicht so schlecht für jemanden, der vor zwanzig Jahren obdachlos, crack- und heroinabhängig war. Nun macht er hier seine tägliche Show und hat außerdem noch einen Comedie-Club, in dem er abends auftritt. „Und seine Freundin ist etwa 20“, sagt Bevan leicht zerknirscht und zeigt auf eine dunkelhaarige junge Frau, die im Hintergrund auf ihrem Handy herumdrückt.
„Vielleicht solltest Du später auch mal Straßenkünstler werden“, sage ich grinsend, und er nickt zustimmend.
Bis jetzt ist Bevan noch Informatiker. Er kommt aus New York, wohnt aber in London auf einem Boot. „Wir haben keine Dusche und auch nicht wirklich ein Klo – das muss man immer von Hand ausleeren…“, erzählt er mir und gibt mir nützliche Tipps für Zeiten, in denen auch ich einmal keine Dusche und kein Klo haben sollte. Öffentliche Schwimmbäder sind das Stichwort und – der Apple Store. „Die haben die tollsten Toiletten“, schwärmt er mir vor, als ich ihn stirnrunzelnd angucke.
Auf dem Platz vor uns steht der nicht mehr ganz junge Künstler im rosa Schlüpper inzwischen auf einer Leiter und hält einen Jonglierball, ein langes Messer und die jetzt vor sich hinbrummende Kettensäge in der Hand. Die Menge hält den Atem an. Außer Bevan. Der flüstert mir ins Ohr: „Die Kettensäge hat gar keine Zacken mehr.“
Trotzdem bin ich gespannt, als der Mister sich selbst dazu herausfordert, die Kettensäge fünfmal in die Luft zu schleudern und wieder aufzufangen. „Eins, zwei, drei…“ zählt er laut mit und bevor er bei fünf ankommt, kommentiert Bevan: „Siehst Du, das ist die perfekte Show mit den drei wichtigsten Zutaten: Nacktheit, Höhe – damit einen auch jeder sehen kann – und Gefahr.“
Ich werde von der Woge der Begeisterung der Menge mitgerissen, die dem Stand-Up-Künstler nun laut zujubelt. Dann stürmen fast alle auf ihn zu, mit ihren Münzen oder Scheinen auf den schwarzen Hut in seiner Hand zielend.
„Der macht ein Vermögen…“, sagt Bevan und schüttelt den Kopf.
Die Menge löst sich nun langsam auf und wir gehen zurück auf Los, an den Platz, an dem Bevan fast vom schlechtesten Taschendieb der Welt bestohlen worden wäre.
Der baut gerade sein Hochseil auf. Auf dem wird er in wenigen Minuten mit einem Einrad hin- und herfahren. „Antoine ist einer der wenigen hier, die wirklich etwas ganz Besonderes können“, sagt Bevan mit Bewunderung. Vielleicht kann Antoine deswegen auch neben Höhe und Gefahr auf die dritte, wohl doch nicht ganz unabdingliche Zutat verzichten. Denn seine Hosenträgerhose und das Sakko lässt er an. Während der gesamten Show.
L.