…nehmen Deutsche – jedenfalls zuhause gebliebene – ja besonders ernst. Immer. Anders als ausgewanderte Deutsche, die sich schon eher einmal den Regeln ihrer Wahlheimat anpassen. Dachte ich. Bis ich neulich eines Besseres belehrt wurde.
Mit froher Erwartung stehe ich auf meiner Weihnachtsmarkt-Reise in die Heimat an einem Schalter in einem hier einmal anonym bleibenden deutschen Bahnhof.
„Das Sparticket gilt genau für zwei Stunden“, sagt die Dame mir gegenüber leicht schwerfällig. „Für Ihren Zug reicht das aber nicht – der braucht nämlich zwei Stunden und eine Minute.“
Ungläubig schaue ich sie an, verzweifelt von der deutschen Regelhörigkeit, runzle die Augenbrauen und setze zur Motztirade à la Française an. Weiter als „Also, das können Sie doch nicht ernst…“ komme ich dabei aber nicht. Dann unterbricht mich meine Kundenberaterin, schüttelt energisch den Kopf mit der schwarzgefärbten Kurzhaarfrisur – nur an einer Seite sind einige Strähnen in leuchtendem Lila gefärbt. „Jetzt warten sie doch mal, ich war doch noch gar nicht fertig…“, meint sie. Und schweigt.
Gefühlte Stunden später setzt sie wieder an. „Wir haben gehört, dass die Schaffner sich einen Spaß daraus machen, genau auf dem letzten Teilstück noch einmal zu kontrollieren.“
„Oh“, sage ich, „naja, dann kaufe ich eben das reguläre Ticket…“
Wieder energisches Kopfschütteln. „Das kostet 28 anstelle von 13 Euro“, entgegnet sie. „Das ist ja schon ein großer Unterschied.“
„Aber Sie haben doch gerade gesagt …“
„Jetzt warten Sie doch mal.“ Wieder Schweigen. Und Augenbrauen-Runzeln. „Sie könnten dem Schaffner auch einfach sagen, sie würden eine Station vorher aussteigen. Das kommt dann genau hin von der Zeit her. Von mir haben Sie das aber nicht gehört…“
„Aber ich dachte, der Schaffner kontrolliert gerne mal auf dem letzten Teilstück…“, sage ich wieder.
„15 Euro sind ja schon viel“, wiederholt sie. Und fügt hinzu: „Sie könnten sich auch schlafen stellen. Oder sagen, sie hätten den Halt verpasst. Aber das alles hab ich Ihnen nicht gesagt.“
„Nee“, meine ich, „ich nehme dann mal das teurere Ticket.“ So schnell wird man wieder deutsch.
„Das müssen Sie schon selbst wissen“, sagt die Frau, tut aber nichts. Sie guckt mich nur erwartend an. „15 Euro sind ja schon viel Geld“, meint sie wieder. Die Finger liegen still auf dem Schreibtisch vor ihr. In Richtung Tastatur bewegt sich da nix. Mit zur Seite geneigtem Kopf guckt sie mich an. Ihre Kugelohrringe tänzeln leicht hin und her.
Ganz verdattert gucke ich sie an. Naja, irgendwie ist es ja lächerlich, säuselt der Betzelbub auf meiner rechten Schulter, es ist doch nur eine Minute länger als erlaubt.
Aber wenn Du erwischt wirst, musst Du 40 Euro zahlen, sagt das zweite Teufelchen, diesmal von der linken Schulter.
„Na gut, dann nehme ich jetzt das günstige Ticket“, bringe ich schließlich heraus.
Zustimmend nickend dreht sich die Dame in Richtung Computer und rund 45 Minuten später ruckelt mein Zug langsam aus dem Bahnhof heraus. Ich steige an der Station XXX aus, wiederhole ich lautlos vor mir selbst, fühle mich halb als Verbrecherin im Land der schier, aber nur schier ungebrochenen Regeln…
„Fahrschein bitte“, tönt es eine halbe Stunde später durch meinen Waggon.
Doch nicht ich ziehe die Aufmerksam des Schaffners auf mich: „Das ist aber nicht das richtige Ticket – das ist für die falsche Richtung“, sagt er zu einem 16-jährigen Mädel auf der Sitzreihe gegenüber von mir.
„Ach echt?“ säuselt sie mit unschuldigem Engelsblick. „Dabei habe ich extra nachgefragt…“
„Wo sind sie denn eingestiegen?“
„An der Station XX“, sagt sie.
„Stimmt ja gar nicht“, tönt es da von gegenüber von ihr. Ein Mann in grauem Anzug, mit schwarz-umrandeter Brille und rotem Schal greift in das Gespräch ein. „Sie sind doch schon eine Station früher eingestiegen!“
„Und da galt ihr Ticket noch auf keinen Fall“, ergänzt der Schaffner und fügt hinzu: „Lügen wollen wir hier ja mal nicht.“
Dann nimmt er die Daten das Mädels auf. Und die von ihrem Freund, der ebenfalls das Schummel-Ticket gekauft hat.
„Weiß gar nicht, was Sie das wohl angeht“, knurrt der dem Spielverderber zu.
„Natürlich geht mich das was an!“ schießt der empört zurück.
„Aber Sie hat doch keiner gefragt!“
„Mir ist egal, ob mich jemand fragt oder nicht – meine Meinung tue ich trotzdem kund! Schließlich bin ich deutscher Steuerzahler und da möchte ich, dass auch jeder für sein Ticket zahlt.“
„Der Herr hat schon Recht“, unterstützt ihn der Schaffner. „Sie werden hier öffentlich befördert und Andere zahlen dafür. Wenn Sie keine Fahrkarte kaufen, nennt sich das Erschleichen einer öffentlichen Dienstleistung.“
Sagts und kontrolliert meine Fahrkarte. Ohne Kommentar. Die zwei Teufelchen auf meinen Schultern jubeln lautlos.
Doch richtig aufatmen kann ich erst, als ich genau zwei Stunden und eine Minute nach Abfahrt an meinem Reiseziel ankomme und auf den rettenden Bahnsteig springe.
L.