…haben Marion und ich neulich kennengelernt. Uns unter Leute mischen wollten wir nämlich und sind spontan zu einem Poetry-Slam in der Nähe der Pariser Börse gehüpft. Bei Poetry-Slams können alle Poeten und Nicht-Poeten sich auf die Bühne stellen und selbstgedichtete oder abgeguckte Reime vortragen. Geld bekommen sie dafür keins, warmherzigen Applaus schon.
So lud schon der Vortragsort dazu ein, Stöckelschuhe und Aktenkoffer hinter sich zu lassen und stattdessen Batikhose und Bob-Marley-Stirnband überzuwerfen. Im „Cafet‘ du Ministère de la crise du logement “ sollten die Dichter auftreten, wobei dies kein echtes Ministerium ist, sondern eine Initiative gegen die Wohnungsnot im Staate Frankreichs. Ganz der Mission entsprechend befindet sich das Café denn auch im Erdgeschoss eines besetzten Hauses, in dem früher eine Bank war und jetzt im Obergeschoss Obdachlose ‚wohnen‘. Offiziell illegal waren wir also alle da, wie mir Wuan, einer der Teilnehmer (auf dem Photo der Zweite von rechts), nach meinen ersten anderthalb Stunden im Pariser Untergrund erklärte.
Dass sich im Untergrund alle duzen und lieb haben, wurde spätestens klar, als Istina (auf dem Photo rechts) zum ersten Mal auf die Bühne trat (Bühne steht hier für die 4 m² links neben dem Sofa). Sie präsentierte die mindestens sechsstündige Veranstaltung, hüpfte im Batik-Strampelchen durch die Gegend und sprach von Weltfrieden und dass wir der Stimme unseres Herzens folgen sollten. Selbst die 5 störenden, laut schreienden Kinder konnten die Miss nicht aus der Ruhe bringen – jedenfalls nicht langfristig. Nachdem sie nämlich kurz angesetzt hatte mit: „Also, ich mag Kinder ja wirklich gerne, aber…“ genervtes Einatmen und gerunzelte Augenbraue fuhr sie fort mit: „Naja, wir sollten alle zusammenhalten und Kinder sind doch etwas Schönes!“ Und ein breites Grinsen unterstützte ihre Botschaft.
Der große Star des Abends war aber eindeutig Ghetto R (der zweite von links auf dem Photo – allein für seinen Künstlernamen verdient der junge Mann schon eine Medaille). Voller Freude kündigte Istina diesen auch an und als er auf die Bühne trat, klatschten wir Illegalen, was das Zeug hielt. Diesem Effekt wirkte Ghetto R jedoch sofort entgegen, sagte, er wolle nicht mehr Applaus als andere, hier seien schließlich alle gleich und andere sollten sich nicht schlechter fühlen als er. So hörten wir still seinen auswendig zitierten Gedichten gegen die Ungerechtigkeit in der Welt zu und fühlten uns für zwei Minuten wirklich wie eine große Familie.
Wenig später hatten Marion und ich aber auch schon fürs erste genug vom Leben im Untergrund und sattelten während einer kurzen Gedichtepause die Hühner. Durch den Flur nach draußen wollten wir nach Hause reiten, wurden jedoch jäh aufgehalten von Ghetto R, der plötzlich aus einem der Nebenräume geschossen kam:
Ghetto R: „Hat mich gefreut, dass Ihr da gewesen seid, Ihr seid jederzeit wieder willkommen.“ Ein versöhnliches Lächeln geht über sein Gesicht.
Wir: „Ja, hat uns auch Spaß gemacht, da kommen wir doch gerne wieder.“ Wir lächeln versöhnlich zurück.
Ghetto R: „Und wenn Ihr Probleme habt auf der dunklen Straße – kein Problem, ich hab da ein paar Security-Leute sitzen“, und er zeigt in den Raum hinter sich. Ob er wohl von den drei zusammengesunkenen Gestalten spricht, die auf den Gitarren rumschrabben…? frage ich mich da, aber bevor ich den Gedanken zu Ende führen kann, fährt Ghetto R fort: „Also dann bis zum nächsten Mal.“ Er ergreift meine Hand.
„Bis zum nächsten Mal.“ Antworte ich leicht irritiert und mache mich darauf gefasst, dass er Marion und mir gleich um den Hals fällt. Anstatt dessen meint Ghetto R jedoch nur: „Gott segne Euch!“ drückt meine Hand kurz und lässt sie schließlich los.
Weder ich noch Marion wissen da, was wir sagen sollen, stottern ein „Äh, ja dann tschüss…“ und hüpfen durch die Tür zurück in die Legalität.
L.